SALUZER Der BLOG
Schreiben, was wir denken - unabhängig und unbeeinflusst. Das wollen wir. Unsere Texte werden kritisch, politisch, besinnlich und kulturell geprägt sein und immer wieder durch etwas Neues, nicht selten auch Amüsantes, ergänzt werden. Kommentare und Textbeiträge nehmen wir jederzeit gerne entgegen. Sie werden von uns wahlweise veröffentlicht oder als Anregung verstanden.
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- Peter-Jürg Saluz
Bevor ich mich auf das Titelthema einlasse, will ich – wie schon oft und immer wieder – festhalten, dass ich erwiesenermassen kein Antisemit bin. Das Leid der von den Nazis ermordeten und gequälten Menschen dürfen und werden wir nie vergessen. Es sollte schliesslich verhindert werden, dass sich so Schreckliches wie der Holocaust wiederholt. Dieser Wunsch geht allerdings nie in Erfüllung.
Kriegsverbrechen gibt es eben immer wieder, jetzt gerade in der Ukraine, wo die Truppen von Putin wüten und voll Hass und Mordlust auch über die Zivilbevölkerung herfallen. Ich kann ebenfalls nicht vergessen, was im Jahr 1994 in Ruanda passiert ist und Hunderttausenden Menschen das Leben gekostet hat. Die grauenhaften Taten der jugoslawischen Kriegsverbrecher, der Folternechte im irakischen Abu Ghraib-Gefängnis und das Leid der Bevölkerung in Jemen lassen sich genauso wenig aus der Erinnerung tilgen. Zudem werden wir laufend mit neuen oder erst jetzt aufgedeckten Kriegsverbrechen konfrontiert.
Der Terrorangriff der Hamas auf Israel im Jahr 2023 ist ein weiteres schreckliches Kapitel in der kriegerischen Geschichte von uns Menschen. Ich verstehe deshalb durchaus, dass Israel der Bekämpfung der Terrororganisation allergrösste Priorität einräumt. Dass ein grauenhaftes Verbrechen mit anderen Kriegsverbrechen beantwortet wird, verstehe ich allerdings trotzdem nicht. Genau das passiert aber im Gazastreifen, wo die unschuldige Zivilbevölkerung einen hohen Blutzoll entrichtet und völkerrechtswidrig von allen Hilfslieferungen abgeschnitten wird.
Was Benjamin Netanjahu mit seinem Kabinett veranlasst, wirkt auf mich jedenfalls wie ein Kriegsverbrechen eines Schurkenstaates Deswegen darf mir aber niemand Antisemitismus vorwerfen, denn das jüdische Leid nehme ich selbstverständlich ebenfalls wahr. Ich wünsche mir allerdings Sicherheit und Freiheit für alle Menschen, also auch für die palästinensische Bevölkerung. Dafür braucht es endlich eine Zweistaatenlösung ohne die Hamas und mit einer den Frieden anstrebenden israelischen Regierung.
Ich bin wie gesagt kein Antisemit, aber ich befürchte, dass der Antisemitismus anwächst, wenn Benjamin Netanjahu noch lange sein schlimmes Handwerk betreiben darf. Dass das unterjochte russische Volk Putin nicht aus dem Sattel wirft und der Ukraine deshalb den Frieden vorenthält, war leider zu erwarten. Die Volksrechte des israelischen Bevölkerung müssten das Entfernen von Netanjahu aber möglich machen.
Wie ich kürzlich in einem von KI verfassten Text gelesen habe, zeichnet sich „semitisches Denken“ durch eine ganzheitliche Perspektive aus. Mit meiner vorstehenden Betrachtung beweise ich daher, dass ich ein aufrechter, aber leider längst desillusionierter Semit bin.
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- Katharina Saluz-Gsell
Es stimmt eben doch, dass das Leben an einem seidenen Faden hängt. Als ich mit acht Jahren meine Schwester verlor, gelangte ich zu dieser Überzeugung, verwarf sie dann aber wieder, um jetzt - sechzig Jahre später - erneut auf sie zurückzukommen. Nicht zufällig, sondern aus traurigem Anlass. Ich habe meinen Sohn, mein einziges Kind, verloren. Ein Riss, der meine Welt unwiderruflich verändert hat.
Wunderbar und grausam zugleich, ist das Leben ein einzigartiges Geschenk voller Überraschungen, doch eines mit ungewisser Ablaufzeit. Vollendetes Glück, auch Kummer, Schmerz und Ängste gehören dazu. Ein bunter Mix, der sich plötzlich und abrupt im Nichts auflösen kann. Ohne Vorankündigung, ohne Erklärung, einfach so. Nur Trauer und Fragen auslösend. Zwingende Fragen, die nach Antworten suchen.
Ich wäre froh, wenn es einen Gott gäbe, vielleicht sogar einen lieben Gott. Er gäbe mir Halt in dieser schweren Zeit. Er wäre meine Anlaufstelle für alles, jetzt und danach.
Oder wäre es besser, wenn der Mensch keine Seele hätte? Wenn wir seelenlos wie Maschinen funktionierten? Trauer, Reue, Angst und Sehnsucht gäbe es nicht.
Kündigt sich das Ende an, ist es womöglich einfacher, das Unausweichliche zu begreifen. Dass der Tod Teil und Konsequenz des Lebens gleichermassen ist, bezweifelt niemand, ihn zu akzeptieren, fällt dennoch nicht leicht. Wir trösten uns mit Dingen, die das Wissen in den Hintergrund drängen. Das Angebot an Ablenkung ist unerschöpflich. Wir vergessen gerne, wie verletzlich wir sind.
Zur Besinnung kommen wir erst, wenn uns eine Lawine überrollt, wenn das Schicksal schonungslos zuschlägt und eintritt, was wir zuvor verdrängt und vor uns her geschoben haben. Was uns eben noch beschäftigt hat, interessiert uns nicht mehr. Dafür verspüren wir ein neuartiges Verlangen nach Tiefe. Unsere Existenz ist unergründlicher als wir dachten. Ob sie endet, wenn der Körper seine Funktion einstellt? Kann man Verstorbene ewig lieben oder vermisst man sie „nur“? Ist Trauer mehr als ein Trennungsschmerz? Trifft der Tod die Hinterbliebenen am schlimmsten? Gibt es einen höheren Sinn als das Leben selbst? Können wir wählen, was wir glauben? Ist Glauben eine Sache des Wollens oder des Könnens?
Unendlichkeit ist eine unvorstellbare Grösse, doch wie sieht Endlichkeit aus? Gibt es ein Nichts? Sollen wir auf ein Wiedersehen mit den lieben Verstorbenen hoffen oder nach einer neuen Perspektive im Hier und Jetzt suchen? Schliesst das eine das andere aus? Oder klärt und regelt sich alles von selbst, wenn wir uns in Demut und Schicksalsergebenheit üben?
Mit Fabians Tod habe ich die Perspektive verloren. Ich zehre von einer reichen Vergangenheit, eine Zukunft sehe ich zurzeit nicht. Ob es für mich überhaupt noch eine Zukunft geben kann?
Womit muss ich rechnen? Worauf soll ich hoffen? Was kann ich mir wünschen, wo mein grösster Wunsch ohnehin nicht erfüllbar ist? Das Leben ist ein Traum, aus dem es kein Aufwachen gibt, denn der Traum heisst Wirklichkeit.
Ich habe nie gelernt, an ein Ziel zu glauben. Habe ich nun auch noch das Wünschen verlernt? Ich bezweifle, dass „wunschlos glücklich“ mehr als eine alte Floskel ist. Eine leere Behauptung, denn um glücklich zu sein, muss man wünschen können. Wer meint, keine Wünsche zu haben, dem fehlt der Glaube an deren Erfüllbarkeit. Er macht sich etwas vor, betrügt sich selbst. Wunschlosigkeit bedeutet Glücklosigkeit und Resignation. Wunschlos ist, wer die Hoffnung verloren hat.
Der Mensch ist ein schwerfällig denkendes, kompliziert funktionierendes Wesen. Zugang zu Einsicht und Vernunft sind ihm oft verwehrt. Zeitverschwenderisch, verwöhnt und fordernd lebt er in seiner Wohlstandswelt dem Ende entgegen. Paradox, dass ausgerechnet der Sturz ins dunkle Loch zu mehr Klarsicht führt und schmerzlicher Verlust bescheidener macht. Unausweichlichkeit befreit blockierte Wahrnehmung. Erkannte Endgültigkeit zerschlägt Illusionen, erweitert aber den Horizont. Uns wird klar, wie wenig wir wissen.
Wir reden von Freiheit, aber es gibt keine Freiheit. Es kann sie gar nicht geben, denn die Zeit kennt nur eine Richtung und ein einziges Ziel. Alle Wege enden am selben Punkt. Das wissen wir, auch wenn wir es nicht wahrhaben mögen.
Das Leben ist die Summe verlorener Tage. Je länger es dauert, desto weniger bleibt. Doch der Tod wird keinen Schlussstrich ziehen, denn er wird nicht das Ende sein. Ich tröste mich mit der Vorstellung, dass wir uns wieder sehen. Wir werden uns da treffen, wo „immer“ und „nie mehr“ dasselbe ist. Mir sind die Widersprüchlichkeiten meiner Gedanken bewusst. Wahrscheinlich müssen sie sein, damit ich beim Denken aus einer vielfältigen Fülle schöpfen kann. Ich brauche die Möglichkeit, Fehler zu machen und von falschen Annahmen auszugehen, damit ich mich immer wieder korrigieren, umbesinnen und neu orientieren kann. Das schafft Dynamik und Dynamik bedeutet Bewegung und Weiterkommen. Auch wenn es abwärts geht, ist Stehenbleiben keine Option. Ich verkomme nicht zum Objekt und Spielball meiner selbst. Die aufgestaute Trauer soll mich nicht erfassen, sondern umgekehrt, ich werde nach ihr suchen und sie auf den Platz verweisen, der ihr zusteht und an dem sie bleiben darf. Ich gehöre nicht ihr, sondern sie gehört mir und zu mir. Fabian ist stets in meiner Nähe und niemand wird sich je zwischen uns stellen. Das gibt mir Halt.
Ich begreife und akzeptiere jetzt, dass viele Fragen offen bleiben und dass ich nie alles verstehen werde. Das macht mich irgendwie gelassen und bietet Raum für Hoffnung. Es hilft mir zudem, meine Gedanken zu bündeln. Ungewissheiten regen das Denken an, diesen Umstand will ich nutzen. Das Schlimmstmögliche habe ich hinter mir, es wird mir nicht mehr widerfahren. Wovor sollte ich mich also ängstigen?
Das Leben verändert sich laufend und der Faden, an dem es hängt, wird zunehmend dünner. Irgendwann wird er reissen. Mir bleibt nichts anderes, als in die vorgegebene Richtung zu gehen. Es gibt kein Zurück, ein Neuanfang findet höchstens im Kopf statt. Ich mag ihn tausendmal denken, aber er bleibt eine Idee. Das muss wohl so sein, denn die Wirklichkeit lebt von Ideen und unerfüllten Wünschen. So bewege ich mich weiter dem Ende entgegen. Dorthin, wo es weder Schmerz noch Trauer gibt und wo sich die gelebten Leben vereinen und gleichzeitig im Nichts verlieren.
Ich fühle mich sicher und aufgehoben, weil Weg und Ziel bestimmt sind. Daran ist nicht zu zweifeln oder zu rütteln. Zweifel sind gedankliche Verirrungen, die keinen Platz mehr finden. Freiheit ist nur möglich, wenn das Unausweichliche Teil des Plans ist. Oder anders gesagt: Einsicht hilft und macht frei. Deshalb akzeptiere ich das Unabänderliche und Unausweichliche. Die Trauer wird mich zeitlebens nicht verlassen. Gegen sie anzukämpfen, ist sinnlos.
An manchen Tagen fühlt sich mein Leben wie auf Eis gelegt an. Dann tröste ich mich mit dem Gedanken, es später wieder aufzunehmen. Nicht, was gerade ist oder nicht ist, sondern was ich denke, zählt. Weiterdenken bedeutet Weiterleben. Indem ich das Bestmögliche akzeptiere, brauche ich das Unmögliche nicht zu suchen und ich bestimme selbst über mein Dasein. Enttäuschung und unnötiger Kräfteverschleiss bleiben mir so erspart.
Weiterleben bedeutet auch Geduld zu üben und abzuwarten, ohne deswegen still zu stehen. Es gibt keine Pausen, keine Stopps, nur Veränderungen, neue Gewissheiten und Ungewissheiten. Hinzu kommt eine Sehnsucht, die es früher nicht gab und die sich in seltsamer Weise gut anfühlt, denn wo Sehnsucht besteht, gibt es ein Ziel, oder zumindest eine Orientierung.
Irgendwann wird nichts mehr wichtig sein, der Gedanke tröstet und beflügelt mich. Wenn nichts mehr wichtig ist, gibt es keine Notwendigkeiten und deshalb keine Zwänge, keine Gefahren und Risiken, keine Nöte, kein Richtig oder Falsch, kein Gut oder Böse, keine Trauer und kein Glück mehr. Der Kreis wird sich schliessen, die Wogen werden sich glätten und Stille kehrt ein.
Noch ist Warten angesagt. Ob meine Vorstellung eine blosse Illusion oder Teil einer höheren Realität ist, weiss ich nicht. Vielleicht will ich es gar nicht wissen, weil die Vorstellung allein zählt und das Restleben lebenswert macht. An ihr arbeite ich mit all meiner Kraft, ich habe keine Wahl.
Manchmal schlägt die Trauer besonders heftig zu und verdrängt sämtliche guten Gedanken und Vorstellungen, sodass eine grosse Leere entsteht. Vielleicht ist es Vorbestimmung, denn Leere ist nutzbar indem sie Platz für neuen Inhalt bereithält. Das ist schmerzlich und zukunftsweisend zugleich. Wo alles verlorenging, kann nichts mehr verlorengehen, aber neuer Sinn entstehen. Ihn zu finden und zu akzeptieren ist herausfordernd, aber nicht unmöglich.
Ohne Leid gäbe es keine Freude, ohne Not kein Glück. Daran halte ich fest. Es ist eine jener Erkenntnisse, die mir das Leben nicht leicht, aber immerhin erträglich machen. Nicht nur, aber auch deshalb habe ich beschlossen, meinen Weg wie für mich vorbestimmt weiterzugehen und mich auf die elementaren Dinge des Lebens zu konzentrieren. Belanglosigkeiten verbanne ich in den Hintergrund, unnötigen Ballast werfe ich ab. Und während ich mich leidlich mit den unumstösslichen Gegebenheiten arrangiere, denke ich vermehrt an das ungewisse Danach. So sehr ich mich im Hier und Jetzt zuhause fühle, beschäftigt mich, was dereinst sein wird. Darüber denke ich täglich nach.
Eine wichtige Aufgabe besteht im Aufräumen und Ordnung schaffen. Allerdings möchte ich nicht da anknüpfen, wo ich einst war. Ich will neuen Freiraum, Platz für neue Gedanken und neue Zuversicht gewinnen.
Nichts ist sicher, das weiss ich schon lange. Dennoch beginne ich erst jetzt zu begreifen, was das bedeutet. Alles ist unsicher, alles ist deshalb möglich. Im Guten, wie im Bösen. Die Aussage scheint einfach, die Konsequenzen sind vielfältig und schwer überblickbar. Dass jederzeit mit allem zu rechnen sei, mag eine abgedroschene, alte Erkenntnis sein, doch sie trifft vollumfänglich zu. Sie besagt, was wir gerne verdrängen und nicht genauer in Worte fassen mögen. Stets auf das Undenkbare gefasst zu sein, sollte ein anvisiertes Ziel sein. Es gäbe den Blick für vieles frei, was sonst im Dunkeln liegt, während wir die ganze Aufmerksamkeit auf das Offensichtliche, gut Sichtbare richten.
Für mich hat die Trauer Licht ins Dunkel gebracht und den Blick für Verborgenes und Unaussprechbares geschärft. Ich ahne, dass es das Nichts und das Nie gar nicht geben kann und dass der Begriff der Endlichkeit menschlicher Beschränktheit und Hilflosigkeit entspringt. Das Leben ist keine Sackgasse, sondern ein endloser Kreislauf, in den wir alle eingebunden sind. Ob wir wollen oder nicht, wir gehören demselben System an. Eine unumstrittene Tatsache, die man manchmal vergessen möchte, weil uns Teile des Systems krank erscheinen.
Oft mangelt es an Ehrlichkeit. Nicht nur andern, auch uns selbst gegenüber. Selbstbetrug und Selbsttäuschung sind verführerische Universalmittel gegen alles, was uns zuwiderläuft. Wir glauben, was wir glauben wollen, und wir wollen glauben, was uns vermeintlich nützt. Was uns Menschen von den Tieren unterscheidet, ist Kapital und Hindernis zugleich. Fehlgesteuerte Intelligenz ist gefährlicher als bescheidene Intelligenz, wobei ich Tieren eine tierische Intelligenz nicht absprechen will.
Ich dachte, das Schwerste hinter mir zu haben, doch damit lag ich wohl falsch. Die Erschütterung lässt zwar nach, aber die aufkommende Ruhe lindert den Schmerz nicht. Dieser ist Teil von mir geworden und beherrscht mein Handeln und Denken. Nichts dreht sich im Kreis wie zuvor, doch der ersehnte innere Frieden bleibt aus. Allein die Erinnerung an Vergangenes und der Gedanke an das Künftige stärken meinen Durchhaltewillen. Wenn das endliche Dasein in die Unendlichkeit mündet, werde ich es geschafft haben. Darauf sollte ich mich eigentlich freuen, auch wenn der bevorstehende Übergang Unsicherheit und Angst auslöst. Noch konzentriere ich mich aber auf das endliche Dasein, auf das Glück, welches dem Schmerz manchmal entgegenwirkt. Ich will es wahrhaben, bevor es entschwindet.
Seit Fabian nicht mehr da ist, suche ich unentwegt Zuflucht und Trost in einer imaginären Welt jenseits des irdischen Daseins. Keine Vorstellung geht mir zu weit, um ein wenig an das zu glauben, was meinen Schmerz lindern könnte. Ohne Option auf ein Wiedersehen irgendwann und in irgendeiner Form verlöre ich die Orientierung. Meine Gedanken kreisen nicht um ein physisch reales Wiedersehen, sondern um ein spirituelles, ein geistig seelisches. Auf diese Weise verbleibe ich noch eine ungewisse Zeitlang in der Realität des diesseitigen Lebens und empfinde manchmal sogar Freude. Auch wenn es sich nur um Momente handelt, um kurze Aufhellungen im einheitlich getrübten Unbunt. Auch Erinnerungen heitern mich mitunter auf, ebenso wie die Gewissheit, dass Fabians kurzes Leben ein besonders kostbares Geschenk war und ist. Fabian bleibt bis heute mein grösstes Glück. Lebenszeit ist von beschränkter Dauer, der Sinn eines Lebens überdauert die eigene physische Existenz.
Erinnerungen heitern mich nicht nur auf, sie ermutigen und motivieren mich zum Weiterleben. Solange ich über Erinnerungen verfüge, bleibt das Vergangene fassbare Realität. Davon zehre ich, wenn mich die Trauer einholt. Wie es wäre, wenn der Kopf nicht mitmachen würde, möchte ich mir nicht vorstellen. Ich pflege meinen Erinnerungsschatz im Wissen, wie wichtig und wertvoll er ist. Statt laufend Neuem nachzurennen, besinne ich mich auf Bestehendes. Das klingt nach Rückschritt oder Stagnation. Für mich bedeutet es Vertiefung mit dem Ziel, den Grund zu erreichen. Vielleicht werde ich finden, wonach ich suche.
Stillstehen will ich indessen nicht, nur bin ich langsamer und bescheidener geworden. Hätte ich mir früher mehr Zeit zur Reflexion gegönnt, wären mir Umwege erspart geblieben. Inzwischen sind meine Wege direkter und kürzer geworden, weil ich mir genügend Zeit, auch Pausenzeit, einräume. Vieles ist einfacher geworden. Einfacher, aber nicht leichter, denn die zu tragende Last ist schwerer denn je.
Ich habe gelernt, meine Last zu tragen. Lange gab es keine Notwendigkeit, wahre Stärke zu zeigen, weil mir das Schicksal schwere Schläge weitgehend ersparte. Das hat sich aber geändert, ich bin nicht länger verschont geblieben. Mir gefällt die Idee, dass hartes Schicksal stark macht. Nur eine Idee, ja, aber ich möchte glauben, dass es so ist. Wenn Schwergeprüfte besonders stark sind, spricht das für die Existenz einer ausgleichenden Gerechtigkeit. Diese Überlegung hilft mir.
Ich habe allen Grund, zufrieden zu sein. Wenn ich höre, was Menschen weltweit an Schrecklichem zu erdulden haben, empfinde ich mein Leben als grosses Privileg. Eine Sichtweise, die ich in unbeschwerten Jugendjahren nicht geteilt hätte und mir erst mit dem Älterwerden erarbeitet habe. Heute schaffe ich es, mich mit den Widrigkeiten und Begrenzungen des Seins zu arrangieren. Ob dies eine Momentaufnahme ist oder der Auftakt in einen neuen Lebensabschnitt, wird sich weisen. Mein Gefühl sagt mir, dass es so bleiben wird.
Ich bewege mich mitten in einem Spektrum von bunten und unbunten, hellen schönen und düsteren Farben, in einer Art Farbwechselbad. Ich gebe acht, darin nicht unterzugehen, wenn schnelle Wechsel zu Turbulenzen führen. Auch das habe ich gelernt: aufkommende Wogen und Wellen zu nutzen und ihnen zu folgen, statt in Panik zu erstarren oder mich ihnen entgegen zu stellen. Gefasst und beweglich zu bleiben und mich als Teil eines unabänderlichen Geschehens zu begreifen.
Und wieder denke ich an Fabian. Ob ihn meine Gedanken befremdet hätten? Wie würde er sein Leben selber rückblickend beurteilen? Wäre er zufrieden damit? Wäre er glücklich? War er glücklich? Hätte er sein Leben ein weiteres Mal antreten wollen, wenn ihm dessen Kürze und jähes Ende bewusst gewesen wären? Antworten wird es auf diese Fragen nie geben. Dennoch will ich sie stellen, weil sie auch ohne Beantwortung undifferenziertem Dunkel Gestalt verleihen und Erkenntnisse generieren können. Ich höre nicht auf zu fragen. Mein Blick wird sich schärfen, auch für das weniger Offensichtliche.
Das Thema ist immer dasselbe: Trauer gehört zum Leben. Der Tod kennt keine Trauer. Auch keine Angst, kein Verlangen, keine Reue und kein Bedauern, in ihm sind wir alle Eins. Doch wir leben und solange der Tod uns nicht vereint, unterscheiden wir uns voneinander. An ihn, ans Danach und an die Bilanz unseres eigenen Seins, denken wir kaum. Dazu ist es vermeintlich zu früh. Vielleicht wird es nie dazu kommen. Was haben wir richtig gemacht, was falsch? Fragen, denen wir uns nach Möglichkeit entziehen. Wir sind zwar verschieden und wir bewegen wir uns auf verschiedenen Wegen, aber wir streben demselben Punkt entgegen. Noch sind wir nicht Eins und doch verbindet uns dieselbe Realität. Wir stehen nah am Abgrund und wollen es nicht wahrhaben. Wir versuchen, die Realität unsern Bedürfnissen zu unterwerfen, dabei findet laufend das Gegenteil statt. Die Realität lässt sich weder beugen noch brechen. Sie bestimmt über den Raum, den wir teilen und in dem sich die einen frei, die andern gefangen wähnen. Platz ist genug für alle, jedoch nicht für die Erfüllung all unserer Wünsche. Und doch erreichen wir alle das Ziel, das einzige Ziel, welches Anfang und Ende zugleich darstellt.
Noch bin ich nicht am Ziel, weder Ende, noch Anfang ist in Sicht. Deshalb arrangiere ich mich mit meiner Trauer. Immer wieder suche ich nach Mitteln, die einen Umgang mit ihr möglich machen. Ich habe gelernt, sie zu akzeptieren und mit ihr zu leben. Sie gehört zu mir, weil sie Erinnerungen in sich trägt, die mich zu der Frau machen, die ich bin und meinem Leben Sinn und Tiefe verleihen.
Gefasst nähere ich mich dem Punkt, an dem Erwartungen keine Rolle mehr spielen werden. Dass wir uns wiedersehen, ist keine Erwartung, sondern Wissen. Darauf setze ich.
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- Katharina Saluz-Gsell
Schwarz-Weiss ist in der Mode gerade der letzte Schrei, im Denken gibt es die beliebte Kombination hingegen nur nominell. Denn wo zwischen Schwarz und Weiss gähnende Leere herrscht, findet kein Denken statt. Denken bedeutet Differenzierung. Das erfordert maximalen Spielraum. Die Wahrheit und mit ihr die Wirklichkeit, die wir zu kennen glauben, lässt sich nicht an Endpunkten fixieren. Sie bewegt sich laufend zwischen oben und unten, hinten und vorn, innen und aussen, gestern und heute, links und rechts, diesseits und jenseits, und das ist gut so. Wahrheit ist stets überall, aber nirgends ausschliesslich.