Lehrer Dungs und das Sofa
Wenn ich mich an meine viele Jahrzehnte zurück liegende Schulzeit erinnere, muss ich meinen Rückblick eigentlich auf zwei Beiträge verteilen, denn als Primar- und als Sekundarschüler habe ich mich buchstäblich in zwei Welten bewegt. Ich fange daher mit der Primarschulzeit an, ohne mich vorerst zu einem späteren Rückblick auf meine wenig glanzvolle Sekundarschulzeit zu verpflichten.
In den Fünzigerjahren konnte bzw. musste man als Primarschüler Unglaubliches erleben. Es hat, was man sich heute kaum mehr vorstellen kann, Lehrer mit perfekten Deutschkenntnissen gegeben. Sie wussten auf fast alles eine Antwort und konnten sogar rechnen. Einzig Themen, die man heute locker und freizügig diskutiert, durfte man bei ihnen nicht ansprechen. Wer ihrem Kodex nicht entsprach oder sogar Fehler machte, der lebte gefährlich. Physisches und psychisches Quälen war nämlich an der Tagesordnung. Die über alles erhabenen Schulmeister liessen sich dieses Vergnügen nicht nehmen. Sie sprachen sogar von Pflichterfüllung, wenn sie zur Folter schritten.
Ich kann mich noch gut erinnern, was seinerzeit einer herzigen, leider aber Nägel kauenden Zweitklässlerin passiert ist. Lehrer Dungs, der eigentlich nicht so geheissen hat, aber von meinem kleinen Bruder so genannt worden ist, hat sich für meine liebenswerte Mitschülerin Grausiges einfallen lassen. Sie, die ich hier Marietheres nenne, musste jeweils zu Beginn der Stunde vor die Klasse treten und sich alle Fingernägel mit echtem Hühnermist bestreichen lassen. Anschliessend wurde ihr eine geflochtene Schnur mit einem daran baumelnden „Nuggi“ umgehängt. Wir hatten das schreckliche Prozedere stehend mitzuverfolgen und sollten - was man mir nie abringen konnte - des Lehrers Heldentat mit Applaus honorieren. Anschliessend durfte sich die Klasse jedoch nicht setzen, denn jetzt liess der mit Taktstock und Stimmgabel bewehrte Dungs uns doch tatsächlich ein von ihm komponiertes Marietheres-Schmählied singen. Mir hat beim Anblick meiner längst weinenden Klassenkameradin natürlich die Stimme versagt, und das ist für Marietheres ein Glück gewesen. Nun hat sich Dungs nämlich mir gewidmet. Er liess mich mit nackten Knien auf ein vierkantiges Holz knien und beide Arme mit den Handflächen nach vorne halten, damit er auf jede Hand drei Bücher legen konnte. Die durften anschliessend nicht herunter fallen. Sie haben es natürlich trotzdem getan und Dungs jedes Mal ein weiteres Vergnügen bereitet. Die Strafe für mich folgte nämlich auf dem Fuss. „Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger zusammenhalten und die Hände mir entgegenstrecken!“ lautete der Befehl. Anschliessend kam der Massstab zum Einsatz. Im Gegensatz zu anderen Schülern ist mir diese Tortur vergleichsweise jedoch selten widerfahren, weil Dungs an meinen schulischen Leistungen nichts aussetzen konnte.
Jürg Sch. hatte es bedeutend schlechter. Er ist von Dungs regelmässig verprügelt worden und hat sich deswegen einmal für drei Tage im Keller eines fremden Hauses versteckt. Ich bin übrigens bei einer gegen Jürg Sch. gerichteten Dungs-Schandtat Mittäter gewesen. Die Lieblingsfrage von Dungs „Wie nennt man das, wenn 22 Idioten einem runden Ding nachrennen?“ musste ich zwar nicht beantworten. Mit Fussball haben wir uns aber trotzdem beschäftigt, denn Jürg Sch. hatte eine gigantische Sammlung von „Tschutti-Bildli“, deren vollständige Vernichtung wir Schüler unter Androhung einer schweren Klassenstrafe im Weigerungsfall übernehmen sollten. Zum Erstaunen von Dungs habe ich ihm gesagt, ich würde diese Aufgabe freiwillig übernehmen und alles allein in der Pause erledigen.
So ist es denn auch passiert und bis zum Beginn der nächsten Stunde vollbracht worden. Ich konnte Dungs stolz den Papierkorb mit dem zerstörten Teufelszeug zeigen und sogar ein grosses Lob einheimsen, weil ich den schlimmen Schund gleich anschliessend zum Kehricht-Container gebracht habe. Dabei liess sich die mehrheitlich unversehrt gebliebene Sammlung von Jürg Sch. bestens verstecken. Entsorgt habe ich jedenfalls nur das Altpapier und die wenigen wirklich zerissenen Bilder, mit denen Jürgs Schatz camoufliert worden ist. Weil die mehrfach vorhandenen Bilder in Jürgs Sammlung direkt hinter einander eingereiht worden sind, musste ich übrigens nicht ein einziges Unikat vernichten. Ich weiss nicht mehr, wer am Schluss mehr gestrahlt hat - Dungs der Schreckliche oder Jürg der Glückliche.
Dungs Unarten wirken bis heute nach. Ich kann sie nicht vergessen, obwohl ich später Rache geübt habe. Zusammen mit meinem leider längst verstorbenen Bruder musste ich einmal in einem Mehrfamilienhaus eine Wohnung räumen. Dabei sind wir ganz überraschend Dungs begegnet, der selbstverständlich über unser Tun informiert werden wollte. Kurzatmig, weil ein für die Abfuhr bestimmtes Sofa tragend, haben wir ihm Antwort gegeben und das an sich zu entsorgende Möbelstück gebührend gelobt. Dass wir das Sofa daraufhin in Dungs Stube stellen und gegen dessen eigenes tauschen mussten, versteht sich von selbst. Daher ist in Chur ein zwar abgegriffenes, aber recht stabiles Sofa im Kehricht gelandet. Gelandet, allerdings auf dem Boden, wird wohl anschliessend auch Dungs sein. Dungs erste Sitzprobe auf dem der Abfuhr entrissenen und aus nackter Gier eingetauschten Sofa hat meinen Bruder und mich glücklicherweise nur Versengeld gekostet.
Seit Dungs Zeiten hat sich viel geändert. Folter gibt es trotzdem noch. Sie ist jedoch subtiler geworden und wird sogar fast unbewusst ausgeübt. Ich spreche von der Missachtung aller Rechtschreibregeln. Wenn Dungs noch leben würde, müsste ich mich aber ebenfalls korrigieren, denn nach neusten Erkenntnissen würde man für seinen Namen nur noch die ersten vier Buchstaben verwenden. Sie wissen ja, was Dung bedeutet. Ich meine aber nicht das tibetische Musikinstrument...